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#allesdichtmachen: Hashtag Verantwortungslos - WELT

Wahrscheinlich versteht der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit von Schauspielerei so viel wie die 53 Schauspieler, die mit der konzertierten Videoaktion #allesdichtmachen die deutschen Corona-Maßnahmen kritisieren, von Virologie. So ist seine auf Twitter geäußerte Einschätzung der Qualität zu erklären – ein „Meisterwerk“, das „uns sehr nachdenklich machen sollte“.

Natürlich darf jeder alles über alles sagen, auch wenn er dabei seine Kompetenzen so weit überschreitet, dass er sich anschließend nach einem Schuster umsehen muss, wenn auch im eigenen Interesse besser nach einem, der bei seinen Leisten geblieben ist. Solche werden leider immer rarer.

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Man muss nicht selbst Schauspieler sein, um sich in Jan Josef Liefers, Heike Makatsch, Ulrich Tukur, Nadja Uhl, Trystan Pütter und Konsorten einzufühlen. Sie vermissen das Rampen- und Blitzlicht, die Endorphine der Premiere, die Gagen für all die im Augenblick ihrer Austrahlung vergessenen Schmonzetten, mit denen die allabendlichen Wegdösslots in der Prime-Time des deutschen Fernsehens gefüllt werden. Da hocken sie nun stattdessen seit einem Jahr in ihren Berliner, Hamburger und Münchner luxussanierten Altbauwohnungen, die denen in den inszenierten Videos einigermaßen ähnlich sehen werden und denken sich, mal wieder was Lustiges machen. So ein bisschen Corona-Maßnahmen-Kritik, aber ironisch, querdenken im Penthouse: „Wisst ihr noch“, mögen sie sich im vorbereitenden Zoom-Call erinnert haben, „da gab es doch letzten Herbst diese Kampagne der Regierung, von wegen, die Front ist die Couch, erzählt aus der Perspektive eines Opas in der Zukunft, der rückblickend berichtet, wie er damals durch bloßes Herumliegen die Welt gerettet hat. So was machen wir jetzt auch, aber andersrum.“

Mehr Meer wagen: Ulrike Folkerts in dem Video
Mehr Meer wagen: Ulrike Folkerts in dem Video
Quelle: welt

Das Merkmal des Ironischen ist der doppelte Boden: Der Sprecher mimt Unschuld, während er Kritik durchklingen lässt. Um als auch nur halbwegs gelungen zu gelten, sollte die vordergründige Pseudoharmlosigkeit originell und die hintergründige Kritik zielsicher sein. Wie sieht das in den Videos aus? Was den Vordergrund, die ausgestellte Harmlosigkeit, betrifft, zum Beispiel so: Ulrike Folkerts kaut endlose 50 Sekunden auf dem naheliegendsten Wortspiel der deutschen Sprache herum – mit „mehr“ Maßnahmen komme sie schnell wieder ans „Meer“, deshalb bitte „mehr“ davon. Ulrich Tukur hat die Lösung, wie Corona endlich der Garaus gemacht werden kann, nämlich indem wir „ausnahmslos jede menschliche Wirkungsstätte und jeden Handelsplatz“ schließen, inklusive der Supermärkte. Denn „sind wir erst am Leibe und nicht nur an der Seele verhungert und allesamt mausetot“, so Tukur verschwörerisch, „entziehen wir auch dem Virus und seiner hinterhältigen Mutantenbagage die Lebensgrundlage“. Heike Makatsch macht derweil die Tür einfach gar nicht mehr auf, nicht mal für Amazon- und Pizzaboten. Richy Müller atmet aus einer Tüte ein und in die andere aus.

Damit man diese Sketche lustig findet, muss man die Maßnahmen der Regierung für krass daneben halten. Geschenkt, dass Merkel, Spahn und Co. in der Pandemiebewältigung selten gut aussehen. Aber wenn man es nicht machen will wie autoritäre asiatische Länder oder auf einsamen Inseln sitzt, scheint die Aufgabe, des Virus Herr zu werden und dabei tausend widerstreitende Interessen unter einen Hut zu bringen, keine leichte. Worauf zielt also der implizite Spott der Schauspieler? Was wollen sie? Mitten in der dritten Welle, mit 30.000 Neuinfektionen am Tag, mit volllaufenden Intensivstationen und steigenden Todeszahlen einerseits und einer absehbaren Durchimpfung der Bevölkerung andererseits radikal lockern, Theater und Geschäfte wieder aufmachen, Konzerte und Festivals stattfinden lassen, Fußball im Stadion gucken, zur Beachparty animieren?

Das wäre so, wie im Kugelhagel zum Aufstehen aufzufordern. Wir haben in Deutschland inzwischen über 80.000 Tote. Reicht das nicht langsam? Vielleicht würde auch alles gut gehen, selbst wenn weltweit die Erfahrungen dagegensprechen, siehe Brasilien, den fünfmaligen Weltmeister der radikalen Lockerungen, aber wer wollte das Risiko auf sich nehmen? Jan Josef Liefers in seiner Villa in Berlin-Steglitz? Oder Ulrich Tukur, dem rechtzeitig vor Corona selbst das Dolce Vita in Venedig zu anstrengend geworden war, sodass er zurück nach Deutschland zog, wo er auch kaum im Elend hausen wird?

Ironische Aktion von Schauspielern sorgt für Diskussion

Rund 50 prominente Film- und Fernsehschauspieler sorgen mit einer groß angelegten Aktion für Aufsehen. Die Künstler verbreiteten auf Social-Media-Plattformen gleichzeitig ironisch-satirische Clips mit persönlichen Statements zur Corona-Politik der Bundesregierung.

Quelle: WELT/Nadine Jantz

Wenn es um Kritik an einzelnen Maßnahmen wie den umstrittenen Ausgangssperren ginge – fair enough. Die Videos ziehen aber die grundsätzliche Anstrengung gegen eine Komplettdurchseuchung ins Lächerliche. Am Anfang seines Auftritts zitiert Tukur achselzuckend Rilke: „Der Tod ist groß/ Wir sind die Seinen/ lachenden Munds.“ Tukur sagt „wir“, meint aber die anderen. Die Konsequenzen der süffisanten Selbstgefälligkeiten, die unter dem Hashtag allesdichtmachen ins Internet hineingesprochen werden, müssten, wenn sie Regierungsprogramm würden, sehr viel weniger Privilegierte tragen, die sich bei der Arbeit und zu Hause nicht schützen können. Die soziale Unwucht der Pandemie ist so traurig wie gut dokumentiert.

Zur Ehrenrettung des deutschen Films – auch vor dieser Aktion keine leichte Aufgabe – haben inzwischen Alexandra Maria Lara, Sandra Hüller oder Elyas M’Barek ihr Entsetzen bekundet. Sie sind noch in der Lage, auch jenseits des Rollenstudiums vor dem Spiegel Empathie zu empfinden. Niemand sagt es allerdings prägnanter als der Moderator Tobias Schlegl, im Nebenberuf Notfallsanitäter, was ihn qualifizierter erscheinen lässt als Liefers selbst in seiner Paraderolle als herzloser Pathologe. Auf Twitter schreibt er: „Die Schauspieler*innen von #allesdichtmachen können sich ihre Ironie gerne mal tief ins Beatmungsgerät schieben.“

In den sozialen Medien ergießt sich schon so viel Missmut über die Aktion, dass Ulrike Folkerts damit locker mehrere Meere füllen könnte. Ist das nun ein Ausweis jener Gleichschaltung, die Liefers weniger verschwörungstheoretisch als verschwörungspraktisch in seinem Video insinuiert? Oder einfach nur Ausdruck eines reifen Liberalismus, der weiß, dass sich die Freiheiten des Einzelnen aus Solidarität und Verantwortung für die Gesellschaft ableiten?

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