
»Tiger King 2«-Protagonisten Jeff und Lauren Lowe
Foto:Courtesy of Netflix / Netflix
Der Witz ist nicht mehr lustig, und natürlich war er es eigentlich nie. Das liegt zum einen daran, dass das Beömmelungspotenzial – humorökonomisch jetzt mal ganz kalt durchgerechnet – eines kurios hellgelbhaarigen, flamboyant-maroden Raubkatzenquälers dann eben doch überschaubar ist, wenn der erste, grelle Kuriositätenlack erst einmal abgeplatzt ist. Und zum anderen, unangenehmeren Part auch daran, dass unsachgemäße bis revisionistische Rezeptionisten und -innen einem das unter dem Empathieaspekt eh schon zweifelhafte Vergnügen vollends kaputt machen, wenn einem zu Beginn der zweiten Staffel des Netflix-Hits »Tiger King« erst einmal vorgeführt wird, wie entschieden misogyn und doppelmoralisch bei Teilen der Zuschauerschaft das Urteil über die beiden zentralen Figuren ausfiel: »Free Joe Exotic« gegen »that bitch Carole Baskin«, so simpelgemütig scheint der Mehrheitsbeschluss der Grölmasse zu lauten. Dass ersterer gerade eine 22-jährige Freiheitsstrafe verbüßt, weil er versucht haben soll, letztere umbringen zu lassen, ist in den Augen seiner Fans natürlich ein schleunigst zu korrigierender Justizirrtum – während die zusammengemunkelten Fast-Indizien, Baskin habe ihrerseits ihren Ehemann an die Tiger verfüttert, als Quasi-Fakten gehandelt werden.
Wer bis jetzt nicht so richtig mitgekommen ist, worum es eigentlich geht, muss leider verloren gegeben werden. Beziehungsweise: die erste Staffel selbst nacharbeiten, weil sich die Scharmützel und Schandgeschichten rund um eine Handvoll exzentrischer Großkatzenbesitzer unmöglich zu einer plausiblen Kurzfassung eindampfen lassen. Ohnehin wäre in Staffel zwei verloren, wer nicht schon offenmäulig und mit Dauer-gibt’s-doch-nicht-Blick die Original-Saga binge-gegafft hat. Wer nicht den Hintergrund von Jeff Lowe kennt, der Joe Exotic den versuchten Auftragsmord angehängt haben könnte, um sich dessen Privatzoo unter den Nagel zu reißen, und wer nicht weiß, wer dieser Dillon Passage ist, der zu Beginn der neuen Staffel erwägt, seinen in Staffel eins erworbenen Ruhm mit dem Vertrieb von Analbleichmittel als Merchandise-Artikel zu Geld zu machen, wird sich in dem nun nachgeschobenen Materialienwust zur Kerngeschichte nicht zurechtfinden.
Zumal sich auch Connaisseure und Connaisseurinnen damit mühen müssen, allzu oft wirkt der zweite »Tiger King«-Aufguss wie eine hastig zusammengeschüttete Panscherei aus allen bunten Getränkeresten, die am Morgen nach der großen Party noch herumstehen. Nach einem kurzen Abriss der Wirkungsgeschichte – Joes Begnadigungsgesuch fand seinen Weg bis auf den Tisch von Donald Trump, weil man sich von ihm in den letzten Zügen seiner Präsidentschaft eine schnelle Eh-schon-wurscht-Unterschrift versprach – wird ein wenig in der Frühbiografie der Hauptfigur gekramt, der belasteten Familiengeschichte von Joseph Allen Maldonado-Passage, den Anfeindungen, die er im amerikanischen Süden nach seinem Coming-out als Homosexueller erlebte.
Ausführlich folgen die Macher Eric Goode und Rebecca Chaiklin dann den zwei großen Fragen des »Tiger King«-Komplexes, ohne ihren Antworten wirklich näherzukommen: Hat Carole Baskin wirklich ihren verschollenen Ehemann umgebracht, oder setzte der sich freiwillig nach Costa Rica ab (um dort seinerseits möglicherweise diverse Straftaten zu begehen)? Und sitzt Joe Exotic unschuldig im Gefängnis? Beide Antagonisten treten in den fünf Folgen der zweiten Staffel nur am Rande auf: Der weggesperrte Exotic via O-Ton aus dem Gefängnistelefon, Baskin in Ausschnitten aus ihrer YouTube-Videoreihe, in der sie aus ihren Tagebüchern vorliest (ja, alle auftretenden Personen verhalten sich weiterhin überwiegend erratisch). Sie hat Klage gegen Netflix eingereicht, weil sie in der zweiten Staffel nicht mehr auftauchen möchte. Dafür reißt der Strom neuer und neu betrachteter Skurrilmenschen wieder nicht ab. »Tiger King« bleibt auch wegen dieses Personals Too-good-to-be-true-Crime.
Zusammenfassend könnte man sagen: Jede Coronawelle bekommt die »Tiger King«-Staffel, die sie verdient. Im März, zu Beginn des ersten Lockdowns, als man sich das Ausmaß der Pandemie noch nicht wirklich vorstellen konnte, als man noch Lieder sang, um beim Händewaschen die korrekte Länge und Ausführlichkeit einzuhalten und ungelenk selbst Behelfsmasken nähte, war Joe Exotic ein idealer Zeittotschlag-Komplize, seine Geschichte die ideale Eskapismusstory. Heute, kurz vor dem nächsten Lockdown, in dem sich alles nur noch bedrohlich planlos und chaotisch anfühlt, kippt einem Netflix eben auch das neue Tigermaterial als nicht wirklich durchdramatisierten Bausatz vor die Füße. Fragt sich nur, wer noch die Nerven haben soll, sich damit wirklich auseinanderzusetzen.
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