Corona bringt die documenta-Vorbereitungen durcheinander. Der Aufsichtsrat berät über eine mögliche Verschiebung der 15. Ausstellung. Argumente dafür und dagegen.
+++16.25 Uhr: Die documenta fifteen wird wie geplant im kommenden Jahr stattfinden – vom 18. Juni bis zum 25. September 2022. Das ist das Ergebnis einer Sitzung des Aufsichtsrats der documenta und Museum Fridericianum gGmbH, das auch von den Gesellschaftern getragen wird. Die Gremien hatten am Freitag getagt und die Frage zu entscheiden, ob die Weltkunstausstellung in Kassel womöglich wegen der allgemeinen Coronalage auf 2023 verschoben wird. Nun steht fest: Alles bleibt, wie es ursprünglich vorgesehen war.
Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle, zugleich Vorsitzender des documenta-Aufsichtsrats, begründete während einer Pressekonferenz am Nachmittag die Entscheidung, die nach sorgfältiger Abwägung getroffen worden sei: „Gerade das kuratorische Konzept von Ruangrupa bietet Möglichkeiten, auf das jeweils aktuelle Geschehen zu reagieren und Gewohntes zu hinterfragen.“
documenta 15 in Kassel: Wie geplant 2022 - vieles funktioniert auch digital
Das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa ist für die künstlerische Gestaltung der documenta 15 verantwortlich. Dabei hat der bewusste und sparsame Umgang mit Ressourcen eine tragende Rolle. Die Weltkunstausstellung könnte so auch vermehrt im digitalen Raum stattfinden. Trotzdem betonte Geselle: „Besucherinnen und Besucher aus Kassel und der Welt möchte ich wissen lassen, dass wir uns auf ihren Besuch freuen.“ Er sagte aber zugleich: „Wichtiger, als neue Besuchsrekorde anzustreben, ist es, ein von der Kultur ausgehendes Zeichen der Hoffnung zu setzen.“
Hessens Kunstministerin Angela Dorn machte klar, dass die Verantwortlichen die Entwicklung der Pandemie ernst nähmen und entsprechende Vorkehrungen träfen. Trotz der möglichen Unsicherheiten sagte sie aber: „Hier sehe ich ein enormes Potenzial für die kommende documenta, einen Wandel zu mehr Nachhaltigkeit im umfassenden Sinn zu bewirken.“ Ähnlich äußerte sich documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann: „Wir können sehr viel erreichen, wenn wir mutig vorangehen und dieser documenta erlauben, sich in einer Situation anhaltender Unsicherheit zu verorten.“ (Florian Hagemann)
Findet documenta in Kassel erst 2023 statt? Heute fällt die Entscheidung
Kassel - Die documenta in Kassel hat in ihrer 66-jährigen Geschichte vieles erlebt. Doch dass die 100 Ausstellungstage wegen eines weltumspannenden Virus infrage stehen, hat es noch nicht gegeben. Im Sommer müsse über den Zeitpunkt der documenta fifteen entschieden werden, hatte Generaldirektorin Sabine Schormann Anfang des Jahres angesichts der Corona-Pandemie gesagt.
Wir tragen Argumente dafür und dagegen zusammen. Denn der Aufsichtsrat der documenta und die Museum Fridericianum gGmbH treffen sich, auch um über eine mögliche Verlegung auf 2023 zu entscheiden. Gesellschafter sind die Stadt Kassel und das Land Hessen, Aufsichtsratsvorsitzender ist Oberbürgermeister Christian Geselle. Die künstlerische Leitung hat mit Ruangrupa aus Indonesien erstmals ein Künstlerkollektiv inne.
Was für eine Verschiebung der documenta fifteen in Kassel um ein Jahr auf 2023 spricht:
Die bessere Stimmung: Jede documenta lebt von Begegnungen, Austausch, gemeinsamem Erleben. Wie soll das gehen mit Abstandsregeln und anderen Hygienebestimmungen? Volksfeststimmung wie 2017 beim Tanz im „Parthenon der Bücher“ oder bei der Ankunft der Wanderreiter aus Athen mit Mund-Nase-Schutz? Unvorstellbar. Schlange stehen vor dem Fridericianum mit Maske? Keine schöne Vorstellung.
Die lokale Anbindung: Für das Konzept des Künstlerkollektivs Ruangrupa ist maßgeblich, die Bevölkerung einzubeziehen – deshalb das Ruruhaus als Kristallisationspunkt seiner Ideen in der ehemaligen Sportarena. Bei der Ausstellung Sonsbeek, die Ruangrupa 2016 im niederländischen Arnheim kuratiert hat und mit der die Indonesier in der westeuropäischen Kunstszene erstmals auf sich aufmerksam gemacht haben, hat sich dieses Vorgehen als erfolgreich erwiesen. Das Ruruhaus konnte bisher aber nur punktuell und kurzfristig öffnen. Die lokale Verankerung der d15 kommt nur schwer in die Gänge. Ein Jahr mehr gäbe da mehr Spielräume.
Verschiebung der documenta 15 in Kassel?
Reiseeinschränkungen für Künstler: Die Kuratoren müssten eigentlich jetzt kreuz und quer zu Künstlern reisen, Ateliers und Ausstellungen besuchen. All das ist zurzeit so gut wie nicht möglich. Umgekehrt können viele Künstler nicht nach Kassel kommen, um Räumlichkeiten kennenzulernen, Standorte auszuwählen und ortsspezifische Arbeiten einzurichten. Gerade davon lebt aber jede documenta – nicht nur von den Gemälden und Skulpturen, die von Speditionen abgeholt und in irgendeinem Saal platziert werden. Man denke nur an die mit Jutesäcken verhüllte Torwache oder den umstrittenen Obelisken vor vier Jahren und an die vielen Außenkunstwerke in der Karlsaue bei der d13 – von Song Dongs „Doing Nothing Garden“ auf der Karlswiese bis zu Sam Durants begehbarer Galgen-Konstruktion „Scaffold“ (Schafott) gegenüber der Schwaneninsel.
Besucher kommen aus der ganzen Welt: Die documenta ist kein Kasseler und kein nordhessisches Event, sondern ein Ereignis, das Kunstfreunde weltweit elektrisiert. Zurzeit ist nicht absehbar, wie sich 2022 mögliche Reisebeschränkungen darstellen. Ein unbegrenztes, unbeschwertes Reisen, vor allem außerhalb der EU, scheint derzeit nicht denkbar. Ob Museumsleiter, Journalisten und Sammler von Übersee werden nach Kassel kommen können? Auch wenn ihr Anteil rein zahlenmäßig kaum ins Gewicht fällt – für die Rolle der documenta in der weltweit vernetzten Kunstszene ist die Bedeutung ihres Besuchs nicht zu überschätzen.
Sinneseindrücke vor Ort zählen: Digitalisierung macht vieles möglich, Termine über Zoom, Skype, Teams und in anderen digitalen Räumen mögen manche mühsame Dienstreise ersetzen. Kunst aber lebt maßgeblich von der Erfahrung des spezifischen Raums, der durch die Eingriffe von Künstlern verändert wird. Man denke nur an den Luftzug, den Ryan Gander 2012 konstant durch das fast leere Erdgeschoss des Fridericianums wehen ließ, oder an Tino Sehgals Tänzer im dunklen Bode-Saal im Hugenottenhaus – solche Erfahrungen für Sinne und Seele lassen sich am Bildschirm nicht substituieren.
Was gegen eine Verlegung der 15. documenta in Kassel um ein Jahr spricht:
Das Budget: Zuallererst und wesentlich die Kosten. Bei einer Verschiebung der documenta auf 2023 würden sie ein Jahr weiterlaufen – und mutmaßlich explodieren. Die Gehälter für das langsam anwachsende Team sowie die Mieten für reservierte Flächen, die ja ein Jahr länger bereitgehalten werden müssen (wie beim Ruruhaus) – sie würden länger laufen. Die Reisekosten würden garantiert nicht geringer. Kurz: Der bereits angehobene Etat von nun 42 Millionen Euro müsste höchstwahrscheinlich noch einmal aufgestockt werden.
Zu wenig Zeit vor der documenta 16: Auch die Folgen für die d16 müssen bedacht werden. Soll sie – dem eigentlichen Fünfjahres-Rhythmus entsprechend – 2027 stattfinden? Turnusmäßig würde die künstlerische Leitung im Spätherbst 2023 bestimmt. Soll aber eine Findungskommission für die d16 sich schon über die Nachfolge Gedanken machen, während die d15 noch läuft? Dass deren Mitglieder ihre Eindrücke von der jeweils jüngsten documenta erst einmal sortieren und Zeit verstreicht, ehe Bilanz gezogen und die Ausstellung möglicherweise neu justiert wird, ist ein sinnvolles Verfahren. Das spricht für eine Atempause zwischen dem Ende der d15 und der Wahl des Kurators der d16. Die Alternative: Die documenta 16 findet nicht nach vier Jahren wieder statt, sondern behält den Fünfjahresturnus bei – das hieße: Ausrichtung erst wieder 2028.
documenta 15 in Kassel im Jahr 2022?
Parallele zur Venedig-Biennale: 2022 allerdings wird auch die Biennale in Venedig ausgerichtet, die zweite ganz große Ausstellung von zeitgenössischer Kunst. Diese Konstellation (die durch die wichtigste Messe für Gegenwartskunst, die Art Basel, komplettiert wird) lockt besonders US-amerikanische Sammler und Kuratoren nach Europa, die innerhalb weniger Tage viele Kunst-Großereignisse „abhaken“ können. Davon profitiert gerade auch die documenta. 2022 wäre das der Fall, 2023 nicht. Auch hier muss man weiter denken: 2027 kämen noch die Skulptur-Projekte Münster hinzu, eine Ausstellung, die sich, wie die documenta, über das gesamte Stadtgebiet verteilt und die mit großer Tradition ebenfalls internationale Ausstrahlung hat. Sie komplettiert die „Grand Tour“ eines Megakunstjahrs aus documenta, Venedig-Biennale, Art Basel und Skulptur-Projekte.
Ressourcen sparen durch digitale Angebote: Digitalisierung mag kein Allheilmittel sein, gerade in der Kunst, aber sie macht doch vieles möglich, wodurch Kunstfreunde in Asien oder Afrika die documenta erleben könnten – von digitalen Rundgängen bis zu speziell fürs Netz geschaffener Kunst. Warum sollte nicht die documenta hier neue Maßstäbe setzen? Besonders, weil sich Ruangrupa den bewussten, sparsamen Umgang mit Ressourcen auf die Fahnen geschrieben hat. Eine weniger üppige documenta wäre ein klares Signal in der Klimakrise.
Corona und documenta in Kassel: Verschieben oder stattfinden lassen?
Die Lage nehmen, wie sie ist: Auch ein wichtiger inhaltlicher Grund spricht gegen die Absage für 2022: Die documenta wird auch deshalb als weltweit so wirkungsvoll betrachtet, weil sie eine Art Seismograf für unsere Gesellschaft darstellt. Künstler reagieren sensibel auf unsere Gegenwart. Warum sollten sich die von Ruangrupa eingeladenen Künstler nicht auch mit der Pandemie auseinandersetzen?
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Eine documenta findet nicht im luftleeren Raum statt, sie verhandelt Themen und setzt Schwerpunkte, die auf den Nägeln brennen – seien es die Stellung des Menschen in der Natur sowie Modelle von Zusammenbruch und Wiederaufbau wie bei Carolyn Christov-Bakargiev 2012, seien es Flüchtlinge, Postkolonialismus und Ausbeutung wie 2017 bei Adam Szymczyk. Jede documenta reagiert auf die Welt, wie sie ist. Es würde der Ausstellung nicht entsprechen, wenn die Kuratoren die Pandemie ausklammern würden, als existierte sie nicht – und als wäre sie 2023 vollständig vorbei und vergessen. (Mark Christian von Busse)
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